Es ist der erste Mai 1960. Nikita Chrustschow bereitet sich auf seine Rede vor, die er in wenigen Stunden auf dem Roten Platz in Moskau vor einigen hunderttausend Werktätigen halten wird und die zeitgleich auf allen Kanälen des staatlich gelenkten Fernsehens und Rundfunks übertragen wird. Routine für diesen Staatsmann, wenn nicht wieder die beängstigende Meldung wäre, dass in Pakistan zum wiederholten Mal ein Flugzeug gestartet sei, welches wiederrechtlich ohne eine Genehmigung einzuholen das Territorium der UdSSR überfliegen wird. Das ging nun schon seit einigen Jahren so und aller Protest auch in der Vollversammlung der UN erntete nur Kopfschütteln bei den Amerikanern. Zu groß war das Vertrauen in die U2, die unerreichbar für die Boden-Luft-Abwehr und für die Jagdflugzeuge in 20 km Höhe Aufnahmen von den Raketenrampen der Interkontinentalraketen, der Atomanlagen, der Rüstungsfabriken und der Militärstützpunkte der UdSSR machen konnte, ohne dass die Russen etwas Ähnliches zu bieten hätten. Es ist der erste Mai, der höchste Feiertag in der UdSSR und Nikita Chruschtschow bedeutet dem Armeegeneral seine Pflicht zu tun.
Der 31-jährige erfahrene ehemalige Luftwaffenoffizier und zivile Pilot Garry Powers ahnt bei diesem Routineflug noch nicht, was alles geschehen wird. Zwar kennt er die Anweisungen über die Selbstzerstörung der Maschine und weiß wo sich seine Giftkapsel befindet, aber was soll schon passieren. Schon sehr oft hat er solch einen Flug über russisches Territorium absolviert und es ist nie etwas passiert. 9 Stunden Flugzeit liegen vor ihm. Gegen 8 Uhr morgens überquert er die Grenze und überfliegt Russland.
Gefechtsalarm! Alle Soldaten der russischen Armee haben in den 3 Jahren Grundwehrdienst nur eines gelernt: zu funktionieren! Feindliche Invasoren haben es gewagt an diesem allerheiligsten Feiertag der UdSSR des Territoriums des souveränen Staates zu verletzen! Die Motivation ist grandios! Unter den Piloten der MIG 19 Staffel, die sofort in den Himmel aufsteigen, ist der sehr junge Pilot Vitali Mukhin. Sein Flugzeug erreicht eine maximale Gipfelhöhe von 16 km. Obwohl die Boden-Luft Raketen unmittelbar neben ihn detonieren und zwei seiner Kameraden durch „friendly fiere“ abgeschossen werden, versucht er alles technisch mögliche, um das Spionageflugzeug zu bekämpfen. Als er den Gegner in Sichtweite über sich hat, versucht er im Steigflug den Nachbrenner zu zünden, ein gewagtes Unterfangen das eigentlich verboten ist weil es zur Zerstörung der Maschine führt und den Tod des Piloten zur Folge haben kann. Der Zündungs-Knall ist trotz des Druckanzuges in der Kabine unerträglich laut! Letztendlich ist auch dieses Manöver erfolglos. Eine von 14 abgeschossenen Boden-Luft-Raketen detoniert endlich so nahe bei der U2, dass diese manövrierunfähig wird und abstürzt.
52 Jahre später. Garry Powers ist längst gestorben. Auch die USA müssen zugeben, dass der Flug völkerrechtlich nicht in Ordnung war und der Abschuss des Höhenflugzeuges eine Meisterleistung war. Der junge Pilot von damals, Vitali Mukhin, ist jetzt 75 Jahre alt. Sein Knalltrauma wurde nach der Landung nur provisorisch behandelt. Ein paar Wochen Ruhe genügten. Es gab zwar Orden und Belobigungen, aber der Dienst am Vaterland ging weiter. Nach Beendigung der aktiven Laufbahn kümmert sich das staatliche Gesundheitswesen um seine Ohren. Bedingt durch das Alter ist der Hörverlust inzwischen gravierend. Ein Hörgerät muss her! Leicht gesagt, die Wartezeit von der Verordnung bis zur Anpassung in diesem immer noch staatlich gelenkten Gesundheitssystem beträgt auch für ehemalige Armeeoffiziere stolze 5-7 Jahre! Und die dann zugeteilten Geräte entsprechen oft nicht den mitteleuropäischen Vorstellungen von einem modernen Hörgerät. Zwar verbringt er wie viele Russen viel Zeit beim Angeln, aber manchmal will man sich ja auch unterhalten!!!! Kneipenbesuche sind auf Grund des Hörverlustes nicht möglich und auch wegen der relativ geringen Rente unerschwinglich. In dem kleinen Dorf im Ural, in dem er wohnt, unterhält man sich mit dem Nachbarn oder dem Popen. Im Nachbarort, so erfährt der Pilot, soll ein komischer Deutscher wohnen, der Hörgeräte hat!
Ja, Stefan Semken stammt aus Bremen. Im Winter ist er in Deutschland und im Sommer lebt er mit seiner Frau in Bingi, ein kleines Dorf im Nord-Ural. Man ist gut Freund mit den Nachbarn im Ort, pflegt einen guten Kontakt zur geistlichen und weltlichen Obrigkeit im Ort und arrangiert sich mit der Umgebung. Das Einkommen wird ein wenig durch Vermietung an durchreisende Touristen aufgebessert. „Mal so richtig in einem russischen Dorf wohnen“ scheint eine Marktlücke im Tourismusgeschäft zu sein und ist für die Semkens eine willkommene Abwechslung. Der Zufall will es, dass der Lehrer der Landesberufsschule für Hörgeräteakustiker Egon Milbrod im Jahr 2011 hier Station macht. In einer ruhigen Minute (ohne Selbstgebranntem!) kommt man sich näher und die Idee für ein Projekt wird geboren. Im Sommer 2012 fährt Egon Milbrod wieder in den Ural. Im Gepäck eine ansehnliche Anzahl von Hörgeräten. Viele Firmen in und um Lübeck haben „Inventur“ gemacht und Egon Milbrod unterstützt. Denn inzwischen hat man im Ural die Idee von damals konkretisiert. Gemeinsam mit dem Popen hat man einen Ohrenarzt gefunden, der die Versorgung der Patienten mit den „gesponsorten“ Hörgeräten sehr kostengünstig übernehmen wird. Eine Schwerhörigenschule in der Nähe ist dank der zur Verfügung gestellten Geräte in der Lage, mal am offiziellen Versorgungsweg vorbei Kindern aus bedürftigen Familien schnell und unbürokratisch zu helfen. Die Verteilung wird durch Semken und den Popen überwacht, so dass kein Gerät später auf dem „Schwarzmarkt“ auftaucht. Bereits eine Woche nach der Übergabe der Hörgeräte an Setfan Semken konnte der Pilot Vitali Mukhin versorgt werden.
Kaum war Egon Milbrod wieder in Deutschland angekommen erreicht ihn die Mitteilung, dass weitere 12 Hörgeräte ihren neuen Besitzer gefunden hätten. „Thanks You and Your friend in Germany we have managed to help some people and here is the name list:” schreibt der Ohrenarzt Jewgeni Schuneilow. „All the devices have been given to the people who need it so much!” Im weiteren Verlauf des Briefes berichtet der Ohrenarzt über die Schule Nr. 126 in Jekaterinburg. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern die nicht völlig taub sind, den Erwerb der Sprache zu ermöglichen. Das ist in Russland ein völlig ungewöhnliches Konzept, denn oft wird zwischen schwerhörenden Kindern und ertaubten Kindern kein Unterschied gemacht. Wer dem Schulstoff nicht folgen kann wird auf eine Sonderschule, häufig mit wochen- oder monatelanger Internats-Unterbringung, verwiesen. Anders hier in Jekaterinburg. Schon seit langer Zeit versucht man hier dem allgemeinen Trend entgegen zu wirken und den Kindern einen Zugang zur „normalen“ Gesellschaft zu ermöglichen. Spezielle Methoden und qualifiziertes Personal sind die Grundvoraussetzung. Eine der Spezialisten ist Larissa Dimitrewa, die hier schon seit 36 Jahren arbeitet. Gemeinsam mit dem Arzt hat sie schnell Kinder gefunden, die dringend versorgt werden müssen. Es ist hier durchaus üblich, dass Kinder nur zu bestimmten Unterrichtsübungen ein Hörgerät leihweise erhalten. Viele der Kinder sind stolz darauf, dass sie sich mit einem weiteren Kind ein Hörgerät teilen können. Den unendlichen Luxus, ein Gerät (auch bei beidseitigem Hörverlust!) nur für sich alleine zu haben, können sich nicht alle Kinder leisten. Das Lebensniveau ist gerade in den ländlichen Gegenden erheblich unter dem in den Städten und viele Familien sind nicht böse, wenn das „behinderte“ Kind längere Zeit nicht zu Hause ist. Dabei könnten sich viele Kinder bei entsprechender Förderung zu hervorragenden Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln! („These Russian children may become famous scientist one day – they have motivation… “).
Natürlich ist die Versorgung mit Geräten nur die Lösung eines Teilproblems. Sowohl die Versorgung beim Ohrenarzt verursacht Kosten, auch wenn der Arzt in diesem Fall erheblich weniger verlangt als er es normalerweise abrechnen könnte. Auch die Batterien sind ein Problem, welches in der Folgezeit einer Lösung bedarf. Egon Milbrod wird den Kontakt zur Schule Nr. 126 nicht abreißen lassen und in der Folgezeit auch uns in dieser Zeitschrift berichten!