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Ich habe Glück und meinen Rhythmus wiedergefunden.

Ich verabschiede mich noch herzlich vom Vermieter und begebe mich auf die Strecke. Die Grenze befindet sich nur wenige km ausserhalb der Stadt und relativ unvermittelt bin ich da. Keine Fragen zur Versicherung, die man hier abschließen muss, und keine Fragen zum Impfschutz. Weiter.

Eine lange Autoschlange in der Grenzzone. Der Wachmann wechselt ein paar Worte mit mir und bedeutet mir an den Autos vorbeizufahren, was ich gerne mache. Auf türkischer Seite ist gerade Schichtwechsel. Die Arbeitszeit beginnt und endet beim Betreten des Arbeitsortes bzw Verlassen desselben. In der Zwischenzeit ist der Arbeitsplatz unbesetzt. Dann werden die Teereste einfach so auf den Boden ausgeschüttet, Zigarettenkippen fliegen durch die Gegend: Ich bin wieder in der Türkei! Zwei Beamte sind notwendig um meine Dokumente zu studieren, die grüne Karte wird verlangt und der Impfnachweis. Dann könnte ich eigentlich losfahren, wenn nicht die gesamte Zone mit LKW verstopft wäre. Am Ausgang der Zone kontrolliert der Beamte nochmal ob ich alle Stempel habe und entlässt mich.

Nach kurzer Fahrt halte ich bei kasachischen LKW an. Sie sind gestern angekommen. Bis Baku werden sie wohl 10 Tage brauchen. Dann heisst es auf eine Fähre warten. Das Chaos an der russischen Grenze ist ihnen bekannt. Ich trinke einen Tee mit ihnen und überlasse ihnen die 200 Rubel in Münzen (ca. 3 Euro), die man in keiner Bank tauschen kann. Dann geht es in eine Nebenstrecke.

Meine Befürchtungen bestätigten sich nicht. Bis Erzurum hatte ich die Noppen an den Seiten meiner Reifens völlig abgeschliffen. Hei, war das eine wundervolle Fahrt bei Temperaturen kurz über 20 Grad. Richtiges Motorradwetter und gute Straßen bei wenig Verkehr am heutigen Sonntag und das ca. 250 km. Dabei traumhaft schöne Landschaften bis zur Baumgrenze bei 1000 m und weit darüber hinaus. Einmal bin ich sogar über 2000 m nach meiner Anzeige. An den Hängen liegt noch Schnee und hier, über 1500 m, sinkt die Temperatur auch unter 20 Grad. 

Nach Erzurum fährt man über eine landwirtschaftlich geprägte Hochebene. Was ich im Vorbeifahren erst nicht glauben wollte entpuppte sich als wahr. Nachdem ich mehrfach Mist-Stapel gesehen habe fahre ich in ein Dorf direkt an der Straße. Nein,ich habe Einiges gesehen, aber diese Armut kenne ich nur von Bildern. Wenn die Leute schon so arm sind, was soll denn erst aus den Kindern werden? Nein, diese Eindrücke, die ich nur von Bildern kenne, einmal hautnah zu sehen, vergehen nicht so schnell!

Agri ist eine Hochschulstadt. Die Zustände auf dem Boulevard und den Geschäftsstraßen sind etwas anders als in Istambul. Ich fühle mich zurückversetzt an meine erste Reise durch Russland im tiefsten Sibirien. Nur einmal hat man mir bisher auf meinen Reisen angeboten, das Motorrad in der Hotellobby abzustellen; jetzt zum zweiten mal. 

Ach Russland, man kann das Gefühl nicht beschreiben. Schon als Kind musste ich unterscheiden lernen zwischen einem System und den Menschen. Ich habe gesehen, dass ein System den Menschen zu ein kleinwenig mehr Wohlstand verholfen hat. Trotzdem „flutschte“ es auf jeder Reise, weil der Zugang zu den Menschen (nicht zum System!) leicht war. Die Systeme wechseln, aber die Menschen bleiben. Das goldene Kalb ist das System, der Sockel, das sind die Menschen. So auch hier in der Türkei: Man müht sich redlich, aber solange Selim Pascha die Rahmenbedingungen nicht ändert, werden die Mullahs und die Alten im Dorf das Sagen haben. Meine Uhr musste ich heute zurückdrehen!

 

 

 

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Egon Milbrod